„Klein Venedig“ wurde früher anders genutzt

Wer durch die malerischen Gassen der Freiburger Altstadt wandelt, stößt unweigerlich auf eine der charmantesten Straßen der Stadt: die Gerberau. Mit ihren historischen Häusern, blumengeschmückten Fenstern und dem plätschernden Gewerbekanal verkörpert sie das romantische Bild einer mittelalterlichen Stadt. Doch woher stammt eigentlich der Name dieser pittoresken Gasse? Die Antwort führt uns tief hinein in die Handwerksgeschichte Freiburgs und zeigt, wie pragmatische Notwendigkeiten des Mittelalters bis heute in der Stadtstruktur sichtbar sind.

Die Etymologie: Gerber + Au = Gerberau

Der Name Gerberau verweist auf die einst am Freiburger Gewerbekanal niedergelassenen Gerber, die ihr wasserintensives Handwerk in diesem Stadtteil ausübten. Die Wortschöpfung folgt einem typisch deutschen Muster: „Gerber“ bezeichnet das Handwerk, „Au“ oder „Aue“ bedeutet im alemannischen Sprachraum eine feuchte Wiese oder ein Auenland – also ein Gebiet in Wassernähe. Die Gerberau war somit wörtlich die „Aue der Gerber“ oder die „Gerberwiese“.

Diese sprachliche Konstruktion ist kein Zufall, sondern spiegelt die mittelalterliche Stadtorganisation wider, bei der Handwerkerviertel oft nach den dort ansässigen Zünften benannt wurden. Ähnliche Namensgebungen finden sich in vielen deutschen Städten: Bäckergasse, Schmiedegasse oder Tuchmachergasse zeugen von dieser historischen Praxis.

Die mittelalterliche Stadtplanung: Warum die Gerber vor die Tore mussten

Um die Namensherkunft der Gerberau vollständig zu verstehen, müssen wir uns die mittelalterliche Freiburger Stadtstruktur vor Augen führen. Die Gerberau lag einst vor der alten Freiburger Stadtmauer und gehörte zur sogenannten Schneckenvorstadt, dem historischen Handwerkerviertel Freiburgs. Die Gerberau lag um 1200 noch außerhalb der Stadtbefestigung.

Diese Ansiedelung außerhalb der Stadtmauern war keineswegs zufällig, sondern folgte strengen mittelalterlichen Regeln der Stadtplanung. Gerbereien wurden in den Städten zumeist nur an Flüssen unterhalb der Stadt geduldet und selten in bewohnten Stadtteilen. Die Gründe dafür waren vielfältig und durchaus nachvollziehbar.

Geruchsbelästigung und Gesundheitsrisiken stellten das Hauptproblem dar. Die Gerbereien waren für die Arbeiter in mehrfacher Beziehung hygienisch ungünstig. Beim Schwitzen der Häute entwickelten sich gesundheitsschädliche Gase, die Vergiftungserscheinungen und selbst den Tod herbeiführen konnten. Der Gerbprozess verwendete verschiedene, oft übelriechende Substanzen – von Tierhäuten über Gerbrinde bis hin zu Urin und anderen organischen Materialien.

Wasserverschmutzung war ein weiteres kritisches Thema. Abwässer aus Gerbereien, die Wildhäute verarbeiteten, konnten Wiesen auf weitem Umkreis verseuchen. Die Abwässer der Gerbereien enthielten Chemikalien und organische Stoffe, die sowohl für Menschen als auch für die Umwelt schädlich waren.

Der Gewerbekanal: Die Lebensader der Handwerker

Das zentrale Element, das die Ansiedlung der Gerber in der heutigen Gerberau ermöglichte und ihren Namen prägte, war der Gewerbekanal. Dieser wurde schon im Mittelalter flussaufwärts der Dreisam beim Sandfang (Kartäuserstraße) aus dem Fluss geleitet und entlang des Schlossberghangs zur Stadt geführt.

Der Gewerbekanal war ein ingenieurtechnisches Meisterwerk des Mittelalters. Der Gewerbekanal der für die Mühlen das notwendige Wasser lieferte wurde von der Dreisam abgeleitet. Das Wasser versorgte nicht nur die Gerber, sondern viele Gewerke nutzten das Wasser: Getreide- und Ölmüller, Gerber, Färber, Fischer, Metzger, Glasbläser, Bierbrauer und Bader.

Wassermanagement war komplex und erforderte ausgeklügelte Regelungen. Manche Nutzungen schlossen sich zeitgleich aus. So war das Einleiten von Abwässern der Gerber und Färber während der Wiesenwässerung verboten. Für das Schlachthaus und die Metzger gab es genau festgelegte Schlachttage. Die mittelalterliche Stadt musste also bereits ein ausgefeiltes System des Umweltmanagements entwickeln.

Die Zunftorganisation: Gerber als wichtiger Wirtschaftszweig

Die Gerber wurden neben den Metzgern und Fischern als wichtige Zunft vor dem Stadttor angesiedelt. Diese Formulierung macht deutlich, dass die Gerber keineswegs marginalisiert waren, sondern einen bedeutenden Wirtschaftszweig darstellten. Gerber ist der gemeinschaftliche Begriff für die Handwerker der verschiedenen Gerbereien, welche auch in verschiedenen Zünften organisiert waren, so z.B. die Lohgerber oder Weißgerber.

Das Gerberhandwerk war hochspezialisiert und erforderte jahrelange Ausbildung. Lohgerber lernen 3-4 Jahre, müssen als Gesellen wandern und als Meisterstück einige Ochsenhäute zu Sohlleder, einige Kuhhäute zu Fahlleder und einige Kalb-, Schaf- oder Bockfelle gerben. Die verschiedenen Gerbereien produzierten unterschiedliche Lederarten für verschiedene Zwecke – von robustem Sohlleder bis hin zu feinem Handschuhleder.

Wasserkraft und technische Innovation

Der Gewerbekanal diente nicht nur der Wasserversorgung, sondern auch als Energiequelle. Zahlreiche Mühlen trieben Sägen, Mahlwerke, Schmiedehämmer und Schleifsteine an. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Gerberau daher überwiegend von Gewerbebetrieben geprägt, die auch die Wasserkraft des Gewerbekanals nutzten.

Diese Nutzung der Wasserkraft machte Freiburg zu einem frühen Zentrum des proto-industriellen Handwerks. Später wurde dann die Wasserkraft wichtig auch für Waffen-, Hammer-, Huf- und Nagelschmiede, Feilenhauer und Sägenfeiler, für Granat- und Edelsteinschleifer, für Drechsler, Papiermüller und Buchdrucker sowie für die Seiden-, Leim- und Düngemittelfabrikation.

Die Runzgenossenschaften: Mittelalterliches Wassermanagement

Ein faszinierender Aspekt der Gerberau-Geschichte sind die sogenannten Runzgenossenschaften. Runzgenossenschaften sind Genossenschaften in Freiburg im Breisgau, die künstlich angelegte Wasserläufe (sogenannte Runzen, alternative Schreibweise Runs) zur gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Nutzung wie Be- bzw. Entwässerung, Mühlen-Antrieb oder Energie-Erzeugung betreiben.

Der alemannische Begriff „Runz“ kommt von „rinnen“ und wird für einen von Menschen angelegten Wasserlauf verwendet. Diese Genossenschaften übernahmen bereits im Mittelalter Aufgaben, die heute kommunale Wasserwerke erfüllen: Sie garantierten eine gerechte Wasserverteilung, kontrollierten die Wasserqualität und organisierten Wartungsarbeiten.

Erstaunliche Kontinuität zeigt sich darin, dass auch heute noch drei derartige Genossenschaften in Freiburg bestehen, von denen die „Obere Runz der Werksbesitzer“ (Gewerbekanal im Bereich Oberau, Altstadt und Freiburger Norden) noch im ursprünglichen Sinne arbeitet.

Von der Handwerkerstraße zur Touristenattraktion

Die Transformation der Gerberau von einem funktionalen Handwerkerviertel zu einer der schönsten Touristenattraktionen Freiburgs ist bemerkenswert. Freiburger nennen den Bereich zwischen Gerberau und Fischerau, durch den der Gewerbekanal läuft, auch gerne Klein Venedig. Im klaren Wasser der Gerber- und Fischerau spiegeln sich die pittoresken Fassaden der alten Häuser mit ihren blumengeschmückten Fenstern.

Der Strukturwandel war dramatisch: Jetzt befinden sich in den Häusern mit den blumengeschmückten Fenstern kleine Geschäfte oder gemütliche Restaurants und Cafes. Was einst von Geruchsbelästigung und Abwässern geprägt war, ist heute eine der romantischsten Ecken der Stadt geworden.

Archäologische Kontinuität

Die historische Bedeutung der Gerberau zeigt sich auch in archäologischen Befunden. Diese Befestigung verlief vom Schwabenthor westlich bis zum Martinsthor zwischen der Grünwälderstrasse und der Gerberau. Die Straße bildete somit eine wichtige Grenze zwischen der befestigten Altstadt und den Vorstädten.

Mittelalterliche Stadtmauer-Reste sind noch heute sichtbar. Wie man es heute noch auf dem Augustinerplatz sehen kann, lassen sich die historischen Stadtgrenzen nachvollziehen. Die Gerberau fungiert gewissermaßen als lebendiges Museum mittelalterlicher Stadtplanung.

Die kulturelle Dimension

Die Geschichte der Gerberau veranschaulicht exemplarisch, wie wirtschaftliche Notwendigkeiten zu dauerhaften kulturellen Prägungen werden. Der Name dieser Straße erzählt von einer Zeit, in der Stadtplanung von handwerklichen Erfordernissen bestimmt wurde, in der Wassermanagement überlebenswichtig war und in der Umweltaspekte bereits eine Rolle spielten – wenn auch aus anderen Gründen als heute.

Handwerkliche Tradition lebt in anderer Form weiter: Wir erfahren, warum die Gerber außerhalb der Stadtmauer lebten und arbeiteten. Der Gewerbekanal spielte in der Schneckenvorstadt eine große Rolle: Müller, Gerber, Fischer und auch eine Badestube mussten bei der Nutzung des Wassers aufeinander Rücksicht nehmen. Diese mittelalterlichen Formen der Ressourcenverteilung und des Umgangs mit Nutzungskonflikten sind durchaus relevant für heutige Debatten über nachhaltige Stadtentwicklung.

Fazit: Ein Name als Geschichtsbuch

Die Gerberau heißt Gerberau, weil hier im Mittelalter tatsächlich Gerber lebten und arbeiteten – nicht als romantische Verklärung, sondern aus handfesten praktischen Gründen. Der Name ist ein sprachliches Fossil, das von einer Zeit erzählt, in der die räumliche Organisation von Städten unmittelbar von den Bedürfnissen des Handwerks bestimmt wurde.

Drei zentrale Faktoren führten zur Namensgebung: erstens die Notwendigkeit der Gerber, außerhalb der Wohngebiete zu arbeiten, zweitens ihr hoher Wasserbedarf, der die Nähe zum Gewerbekanal erforderte, und drittens die mittelalterliche Praxis, Straßen nach den dort ansässigen Handwerkern zu benennen.

Die Gerberau ist somit mehr als nur eine malerische Altstadtgasse – sie ist ein Lehrstück über mittelalterliche Stadtplanung, frühes Umweltbewusstsein und die Kontinuität historischer Strukturen. Ihr Name verbindet uns unmittelbar mit den Menschen, die vor über 800 Jahren die Grundlagen der heutigen Stadt Freiburg legten.

Heute wie damals steht die Gerberau für die gelungene Integration von Wohnen, Arbeiten und Lebensqualität – nur dass anstelle der Gerbereien nun Cafés, Galerien und kleine Geschäfte das Straßenbild prägen. Der plätschernde Gewerbekanal aber fließt noch immer, als lebendiges Zeugnis einer faszinierenden Stadtgeschichte, die in ihrem Namen für alle Zeiten bewahrt ist.

Von BSF

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